Auf dem Weg in den autoritären Staat (Blätter für deutsche und internationale Politik)
(Via Kommentar von Don Pepone, via Mein Parteibuch Blog)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger analysiert, ob sich aus dem Grundgesetz oder aus anderen ähnlichen Gesetzeswerken oder Erklärungen ein "Grundrecht auf Sicherheit" ableiten lässt und was dies bedeuten würde.
Ausschnitt:
Ohne nennenswerte Wirkung zu entfalten, hatte damals vor allen der als Kronjurist der konservativen Rechtspolitik geltende Bonner Staatsrechtler Josef Isensee behauptet, im Grundgesetz der Bundesrepublik sei, wenngleich nicht ausdrücklich, so jedoch implizit ein Grundrecht auf Sicherheit verankert. Darauf anspielend erklärte Otto Schily 1998, an die Gegner des Großen Lauschangriffs gewandt: "Wer meint, dass das Grundrecht auf Sicherheit eine Erfindung konservativer Professoren ist, der irrt und beweist damit nur seine Unkenntnis der deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte. Schon in der Virginia Bill of Rights ist das Grundrecht auf Sicherheit enthalten gewesen. Es setzt sich über die verschiedenen Verfassungsdokumente bis zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fort, in der in Artikel 5 das Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit verankert ist." [...]
Die in der Verfassung positivrechtlich spezifizierten Freiheitsgrundrechte würden einem entindividualisierten, kategorial also völlig anderen, positivrechtlich nicht fassbaren, insofern notwendig abstrakten und deswegen in Abwägungen immer überlegenen Grundrecht auf Sicherheit untergeordnet werden. Die Freiheit würde der vermeintlichen Sicherheit zum Opfer fallen. [...]
Das zentrale für die Existenz eines solchen Grundrechts auf Sicherheit vorgebrachte Argument ist jedoch unzutreffend. [...] weil die Sicherheit, die Art. 5 EMRK neben das Grundrecht auf Freiheit stellt, unter allen Auslegungsgesichtspunkten und nach ständiger Rechtssprechung des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs sowie der einschlägigen Kommentarliteratur nicht Sicherheit durch, sondern Sicherheit vor dem Staat bedeutet. (Quelle: Blaetter.de)
Es folgt noch eine interessante Auflistung der "verfassungspolitischen Desaster", in die die Bundes- und einige Länderregierungen in letzter Zeit immer wieder gerieten, weil die Regierungen den Charakter des Grundgesetzes als Gesetz zum Schutz des Bürgers vor dem Staat missachteten.
Anschließend analysiert der Artikel eingehender die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des Großen Lauschangriffs und Leutheusser-Schnarrenberger stellt dar, dass sich Regierung und Parlament in ihrem berichtigten Gesetzentwurf zum Großen Lauschangriff nicht an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gehalten haben:
Bemerkenswert ist nun, dass bereits der in die parlamentarische Beratung eingebrachte und schließlich auch vom Deutschen Bundestag mehrheitlich verabschiedete Gesetzentwurf den § 100c Abs. 4 kaum merklich anders fasst, ohne dass dies die zustimmende Bundestagsmehrheit gestört hätte. Anstelle des strikt bedingenden "wenn kernbereichsrelevante Informationen erfasst werden" steht nun im Gesetz das relativierende "soweit kernbereichsrelevante Informationen erfasst werden", womit erkennbar der rechtliche Spielraum für eine Umgehung des verfassungsgerichtlichen Überwachungsverbots geschaffen wurde. Abweichend von den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts scheint also nun der Lauschangriff auch dann zulässig sein, wenn typisierende Umstände unwiderlegbar darauf schließen lassen, dass in den überwachten Räumen kernbereichsrelevante Gespräche geführt werden. (Quelle: Blaetter.de)
Bei der Regelung der Telekommunikationsüberwachung geht die Bundesregierung sogar noch weiter. Hier sollen Überwachungen nur abgebrochen werden, "wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme [vorliegen], dass durch die Überwachungsmaßnahmen allein Kommunikationsinhalte oder Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt würden." Die Betonung liegt auf "allein"!
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger folgert dementsprechend:
Dies ist eine Formulierung, die in ihrer rabulistischen Qualität kaum noch zu überbieten ist. Denn weil eine Prognose darüber, dass in einer interpersonalen Kommunikationssituation alleine, das heißt ausschließlich kernbereichsrelevante, Gespräche geführt werden, lebensfremd und schlicht unmöglich ist, wird die sich als eingriffsbeschränkend gerierende Formel in Wirklichkeit dazu führen, dass ausnahmslos alle Gespräche einer polizeilichen Überwachung offen stehen. (Quelle: Blaetter.de)
Denn: Weil niemand mit Sicherheit prognostizieren kann, dass ein Verdächtiger bei einem Gespräch mit beispielsweise Familienangehörigen doch auch über Dinge sprechen könnte, die mit der ihm zur Last gelegten Tat zu tun haben, meint die Bundesregierung und die SPD- und Unionsfraktionen im Parlament, dass die Polizei im Zweifelsfall halt immer abhören muss. Aus dem Verbot des Bundesverfassungsgerichts, dass Überwachungen dort zu unterbleiben haben, wo der Kernbereich der Privatsphäre betroffen ist, wird so eine Vorgabe, die nach den Äußerungen von Regierung und SPD/Union kaum mehr beachtet werden muss.
Weiterhin wird die Bundesregierung dann argumentieren, dass die automatische Aufzeichnung aller Gespräche ("Richterband") das grundgesetzschonendere Vorgehen sei (im Vergleich zur von der Bundesregierung herbeifantasierten Möglichkeit, Gespräche eigentlich immer "live" mitverfolgen zu dürfen).
Dies, so Leutheusser-Schnarrenberger, sei pure "Rabulistik".
Zum Schluss geht Leutheusser-Schnarrenberger noch auf die "Gedankenexperimente" von Schäuble ein, das bei der Gefahrenabwehr der Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht mehr gelten könne.
Es wirft ein grelles Licht auf den fundamentalen Wandel im Staatsdenken, der sich in den letzten Jahren schleichend vollzogen hat und nun mit Vehemenz die Politik bestimmt, dass es ausgerechnet das Bundesinnenministerium war, das in einer 1989 herausgegebenen Broschüre ausdrücklich auf die dem Hobbesschen Staatsdenken eigene Gefahr der "Rechtfertigung autoritärer Systeme" hinwies, in denen "die Bedeutung des Volkes auf den Status von Befehlsempfängern degradiert wird." (Quelle: Blaetter.de)
Wolfgang Schäuble jedoch bezieht sich neuerdings ausdrücklich auf Thomas Hobbes als Kronzeugen des angeblich "modernen Staatsdenkens".
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